Wenn Kopfschmerzen vom Kiefer kommen
16. Oktober 2024Kopfschmerzen können viele Ursachen haben. Eine davon: die craniomandibuläre Dysfunktion, kurz CMD. Obwohl weit verbreitet, wird sie oft verkannt. Wie sich Kiefergelenkprobleme äußern und wie der Zahnarzt oder Kieferorthopäde helfen kann.
Kopfschmerzen hat wohl jeder Mensch schon einmal gehabt. Oft ist es dann mit einer Schmerztablette getan und das Problem taucht nicht so schnell wieder auf. Doch was, wenn das nicht klappt und die Kopfschmerzen immer wieder kommen? Ein Arztbesuch ist immer dann nötig, wenn die Kopfschmerzen regelmäßig auftreten, nicht gut auf Schmerzmittel ansprechen oder die Attacken häufiger werden, so die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft (DMKG). Eine weitere Faustregel lautet: Wenn Schmerzmittel aufgrund von Kopfweh häufiger als acht- bis zehnmal im Monat eingenommen werden, sollte ein Arzt sich das anschauen.
Je nachdem, ob eine Migräne, Spannungskopfschmerzen oder andere Ursachen dahinterstecken, wird der Hausarzt seinen Patienten entsprechend weiterüberweisen. Z. B. zum HNO, wenn er ein Problem mit den Nasennebenhöhlen vermutet. Oder zum Orthopäden, wenn er auf ein Wirbelsäulenproblem als Ursache tippt. Eine Kopfschmerzursache wird jedoch oft übersehen. Und das, obwohl sie relativ häufig ist: die sogenannte craniomandibuläre Dysfunktion oder CMD.
Was versteht man unter CMD (craniomandibuläre Dysfunktion)?
Craniomandibuläre Dysfunktion bedeutet wörtlich übersetzt so viel wie Kopf-Unterkiefer-Fehlfunktion – also eine Fehlfunktion im Bereich der Kiefergelenke. Zähne, Kiefer, Kiefergelenke und Kaumuskulatur sind dabei im Ungleichgewicht. Die CMD bleibt jedoch häufig nicht auf die Zähne, Kiefer und Kaumuskeln beschränkt, sondern kann sich auch auf andere Körperregionen auswirken.
Welche Symptome deuten auf eine CMD hin?
Kopfschmerzen – sowohl Spannungskopfschmerzen als auch Migräne – gehören zu den häufigsten Symptomen bei craniomandibulärer Dysfunktion. Weitere typische CMD-Beschwerden sind Schmerzen im Bereich des Kiefergelenks und der Kaumuskeln. Auch ein Knacken oder Reiben im Kiefergelenk beim Kauen, beim Öffnen, Schließen oder Bewegen der Kiefer sind charakteristisch. Aber auch Zahnschmerzen, eine erhöhte Empfindlichkeit der Zähne, Bewegungseinschränkungen des Unterkiefers, Mundöffnungsschmerzen, Verspannungen im Bereich von Schulter und Nacken, Probleme mit der Halswirbelsäule, Gesichtsschmerzen und sogar Tinnitus und Schwindel können von den Kiefergelenken herrühren. Und auch Zähneknirschen, tagsüber oder nachts, oder ein Aufeinanderpressen der Zähne treten in Zusammenhang mit CMD häufiger auf.
Kiefergelenke und Kopfschmerzen: Wie hängt das zusammen?
Die Kiefergelenke haben eine enge örtliche Beziehung zu wichtigen Strukturen des Schädels. Ist das Zusammenspiel zwischen Zähnen, Kiefergelenk und Kaumuskeln aus dem Gleichgewicht, versucht die Muskulatur, der Fehlstellung durch eine erhöhte Spannung entgegenzuwirken.
Dadurch können Kopfschmerzen entstehen. Da Kau- und Nackenmuskulatur eng miteinander verbunden sind, kommt es häufig auch zu schmerzhaften Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich, die wiederum Kopfschmerzen auslösen können. Auch Zähneknirschen (Bruxismus) wird durch eine craniomandibuläre Dysfunktion begünstigt. Die Kräfte, die dabei auf die Zähne wirken, sind enorm: Messungen haben ergeben, dass beim Zähneknirschen Belastungen von mehreren hundert Kilogramm pro Quadratzentimeter im Spiel sein können – und das über Stunden hinweg. Zum Vergleich: Beim Kauen wirken gerade einmal 30 kg, und das über den Tag verteilt nur für insgesamt 15 Minuten. Man kann sich also gut vorstellen, warum Zähneknirschen in Zusammenhang mit CMD ein erhöhtes Kopfschmerzrisiko mit sich bringt. Da Zähneknirschen nicht nur als Folge, sondern auch als Ursache der CMD in Verdacht steht, handelt es sich hier möglicherweise um einen Teufelskreis.
Was sind die Ursachen einer CMD?
Die Ursachen für CMD sind vielfältig. Häufig stecken jedoch Zahnfüllungen oder Zahnersatz dahinter, die nicht exakt eingeschliffen wurden. Stimmt die Bisshöhe nicht mehr, sind die Zähne nicht mehr korrekt verzahnt. Das wirkt sich auf die Kiefergelenke aus. Weitere Ursachen können Verletzungen oder angeborene Fehlstellungen sein, die sich auf die Kieferstellung auswirken, oder auch eine kieferorthopädische Therapie, die fehlerhaft ist oder das korrekte Aufeinanderbeißen der Zähne nicht ausreichend oder sogar von vornherein gar nicht berücksichtigt, weil sie sich nur auf die Ästhetik der Frontzähne beschränkt.
All diesen Ursachen gemeinsam ist, dass sie das Zusammenspiel von Zähnen, Kiefergelenk und Kaumuskulatur stören. Dies kann lange Zeit unbemerkt bleiben, weil der Kauapparat die Fehlbelastung kompensiert. Kommen weitere Faktoren wie etwa Stress oder Alters- und Abnutzungserscheinungen hinzu, kann die CMD jedoch Beschwerden verursachen.
Welcher Arzt ist der richtige Ansprechpartner bei Kopfschmerzen durch CMD?
Genaue Zahlen sind zwar nicht bekannt. Man schätzt aber, dass bis zu 60 Prozent aller Menschen zumindest zeitweise unter CMD leiden. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Weil sowohl die Symptome als auch die Ursachen vielfältig sind – und auch weil das Krankheitsbild nicht sehr bekannt ist – denken die behandelnden Ärzte oft nicht an eine CMD. Die Patienten landen mit ihren Beschwerden eher beim Orthopäden, Physiotherapeuten, Osteopathen, HNO-Arzt oder Neurologen, obwohl die Ursachen im Bereich der Kiefergelenke und somit der Zahnheilkunde liegen. Oft haben die Patienten bereits eine lange Odyssee von Arzt zu Arzt hinter sich, wenn sie einem Zahnarzt oder Fachzahnarzt für Kieferorthopädie ihre Beschwerden schildern. Dabei kann dieser eine CMD relativ leicht feststellen und behandeln.
Wie wird die Diagnose craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) gestellt?
Beim Verdacht auf eine craniomandibuläre Dysfunktion führt der Zahnarzt oder Fachzahnarzt für Kieferorthopädie zunächst eine sogenannte manuelle Funktionsanalyse durch – eine gründliche Untersuchung des Zahn-, Kiefer- und Kopfbereichs. Er überprüft, ob das Kiefergelenk in seiner Beweglichkeit eingeschränkt ist und ob die Kontakte der aufeinanderbeißenden Zähne stimmen. Durch Abtasten lässt sich ermitteln, ob die Muskeln, die am Kauvorgang beteiligt sind, verhärtet oder druckschmerzhaft sind. Neben der manuellen Untersuchung kommen auch instrumentelle Funktionsanalysen zum Einsatz. Das sind spezielle Messverfahren, mit deren Hilfe man die Lage und die Bewegungen der Kiefergelenke in bestimmten Belastungssituationen dreidimensional darstellen und analysieren kann. Dies erfolgt z. B. mit Hilfe von Gipsmodellen und einem Artikulator: einem Gerät, das die Gelenkbewegungen des Patienten simuliert. Aber auch hochpräzise computergestützte Verfahren, die Kieferbewegungen und Kaudruck digital darstellen, sind inzwischen verfügbar. Eine MRT-Diagnostik kann bei bestimmten Fragestellungen zusätzliche Hinweise geben.
Zusammenarbeit mit anderen Fachgebieten wichtig
Bei der Diagnostik geht es auch darum, mögliche Ursachen der CMD festzustellen. Deshalb sind z. B. auch Befunde vom Orthopäden oder von anderen Fachärzten wichtig, die etwa Rückschlüsse auf Wirbelsäulenprobleme geben. Der Zahnarzt oder Fachzahnarzt arbeitet wenn nötig eng mit den anderen beteiligten Fachrichtungen zusammen und nimmt ggf. eine koordinierende Funktion ein – z. B. wenn neben der zahnärztlichen oder fachzahnärztlichen Behandlung noch Physiotherapie oder Osteopathie angezeigt ist. Insbesondere, wenn Schmerzen chronisch geworden sind und sich verselbständigt haben oder wenn in großer Regelmäßigkeit Schmerzmittel eingenommen werden, ist es oft sinnvoll, einen Schmerzmediziner hinzuzuziehen.
Wie sieht die Behandlung bei CMD aus?
Eine Maßnahme, die sich bei CMD sehr bewährt hat, sind transparente, adjustierte Aufbissschienen aus Kunststoff, die hauptsächlich nachts getragen werden. Sie haben den Effekt, dass sie den Unterkiefer in die gewünschte Position bringen. Auch tagsüber lassen sich so eingefahrene Verhaltensmuster korrigieren, weil sich die Kiefer wieder an ihre natürliche Bisslage gewöhnen. Man kann sagen: So unterschiedlich die Fehlstellungen sein können, so unterschiedlich sind die empfohlenen Tragezeiten. Auch Zahnschmelzabrieb durch Zähneknirschen (Bruxismus) lässt sich durch Knirscherschienen verhindern. Oft wird dadurch schon eine deutliche Besserung der Beschwerden erreicht. Eine physiotherapeutische Behandlung ist als Ergänzung oft sehr sinnvoll.
Zusätzlich kann es hilfreich sein, die Zähne in Ausnahmefällen gezielt zu beschleifen oder abgenutzte Kauflächen durch Aufbauten (Bisserhöhung) wiederherzustellen. So werden die Kräfte, die beim Kauen wirken, wieder gleichmäßig über die Zähne und Kiefer verteilt. Das führt zu einer Entlastung der Kaumuskulatur und wirkt Verspannungen im Kopf-, Hals-, Nacken- und Schulterbereich entgegen und das Gebiss wird "knirschfähig" gemacht.
Die Dinge nicht so verbissen angehen: Das können Sie selbst tun!
Aber auch Sie als Patient können etwas tun: Zunächst gilt es, sich bewusst zu machen, in welchen Situationen Sie besonders dazu neigen, Ihre Zähne aufeinanderzubeißen, weil Sie gestresst oder angespannt sind. Im nächsten Schritt können Sie versuchen, zwischendurch immer wieder bewusst lockerzulassen. Weil man das im Alltag oft vergisst, können kleine Erinnerungsbotschaften hilfreich sein. Kleben Sie sich z. B. ein Post-it oder einen Klebepunkt als Reminder zum Lockerlassen an den Bildschirm oder ins Cockpit Ihres Autos.
Quellen:
- S3-Leitlinie "Diagnostik und Behandlung von Bruxismus"
- Das Gesundheitsportal medondo.health
- Graff-Radford SB, Abbott JJ. Temporomandibular Disorders and Headache. Oral Maxillofac Surg Clin North Am. 2016 Aug;28(3):335-49.
- Gonçalves DA, Camparis CM, Franco AL, Fernandes G, Speciali JG, Bigal ME. How to investigate and treat: migraine in patients with temporomandibular disorders. Curr Pain Headache Rep. 2012 Aug;16(4):359-64.
- Contreras EFR, Fernandes G, Ongaro PCJ, Campi LB, Gonçalves DAG. Systemic diseases and other painful conditions in patients with temporomandibular disorders and migraine. Braz Oral Res. 2018 Jul 23;32:e77.
- Garrigós-Pedrón M, La Touche R, Navarro-Desentre P, Gracia-Naya M, Segura-Ortí E. Effects of a Physical Therapy Protocol in Patients with Chronic Migraine and Temporomandibular Disorders: A Randomized, Single-Blinded, Clinical Trial. J Oral Facial Pain Headache. 2018 Spring;32(2):137-150.